Interview Gebhardt 2006

Marcos Cruz (2006)

Interview by Birgit Gebhardt for Designklicks, Germany.
See http://seen.by.spiegel.de/interview/marcos-cruz



Birgit Gebhardt. Sie sprechen davon, dass die meisten Architekten sich in ästhetischen Fragen schnell einig sind und letztendlich eine bestimmte Richtung verfolgen. Welche ist das, warum ist das so und was haben Sie unternommen, um dieser gelernten Ästhetik auszuweichen?

Marcos Cruz. Ich glaube, dass die zeitgenössische Architektur (wie bereits in den siebziger Jahren Pierre Bourdieu in seiner sozialen Kritik erklärte) nicht nur nach platonischen Ideen zu Gunsten der "Noblen Sinne", wie z.B. der Vision, strukturiert ist, sondern auch auf einer ‚Kantschen Ästhetik’ des ‚Reinen Geschmacks’ beruht, die das ‚Abstrakte’ und ‚Intellektuelle’ höher stellt als das ‚Materielle’ und ‚Viszerale’ (Bourdieu, S. 486).

Die Mehrheit der aktuellen architektonischen Werke ist nach wie vor von einer Linienführung geprägt, die kantige und glänzende Eigenschaften bevorzugt. Auch wenn wir, Architekten und Designer, jeweils eine eigene Sprache sprechen, gibt es dennoch eine ähnliche Sensibilität in bezug auf Eleganz, Expression und Raumqualität. Dieser gemeinsame ästhetische Hintergrund, der noch immer an den Universitäten gelehrt wird, beruht auf einem geschichtlichen Ablauf, in dem es keinen Bruch gab, wie im vergangenen Jahrhundert bei den Bildenden Künsten (Bewegungen wie Avantgarde, Duchamp, Beuys, body-art, anti-minimalismus etc.) So versteht sich die zeitgenössische Architektur zu einem großen Teil immer noch als direktes Erbe der Moderne. Hinzu kommt, dass Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein neuesHygienebewusstsein entstand, welches in der Designpraxis grundlegende Konsequenzen hatte. Theoretiker wie Adrian Forty und Mark Wigley, die ausfürlich darüber schrieben, haben eine Beziehung zwischen Schmutz, Unordnung und Machtmechanismen identifiziert, was u.a. einen verstärkten Wunsch nach Reinheit und Einfachheit im Design ausgelöst hat (Forty, S. 156-170); desgleichen das historische Phänomen des modernistischen ‚Whitewash’, in welchem die Notwendigkeit nach biologischer Sauberkeit größtenteils als eine ‚Hygiene der Vision’ zu deuten ist (Wigley, S. 5).

Der daraus folgende, heutige Trend, der in Londoner Kreisen als ‚Polite Modernism’ bezeichnet wird, ist eine Art ‚zeitgenössischer Modernismus’, der in gebildeten Gesellschaftskreisen akzeptiert und sogar weitgehend bewundert wird, und mit dem man als Architekt ganz bestimmt nicht falsch liegen kann.

B.G. Sie verfolgen dagegen bewusst eine Architektursprache, die sich fremd, hässlich und in Teilen gar abstoßend zeigt. Warum?

M.C. Als Anti-Statement zum ‚Polite Modernism’ arbeite ich im Rahmen meiner Doktorarbeit an einem Phänomen, das ich als ‚Ekel-Ästhetik’ (Aesthetics of Disgust) bezeichne. Mein Interesse führt direkt zum Spürsinn in der Architektur, und der ist entscheidend in der Wahrnehmung von Substanzen und Texturen, hauptsächlich, wenn diese weich, zähflüssig oder schmierig sind. Meine Untersuchungen gelten der Anziehungskraft solcher stark haptischen Materialität. Es kann von reiner Neugierde bis hin zu Gefühlen der Faszination oder sogar dem Wunsch der Berührung reichen. Aber mein Interesse am Phänomen ‚Ekel’ gilt – abgesehen von einer ganzen Reihe relevanter historischer Ereignisse – den aus dem Bereich des biologischen und medizinischen Designs hervorgehenden Entwicklungen. Es steht uns Designern und Architekten eine ganz neue Herausforderung bevor, die tief greifende Konsequenzen auf unsere Praxis haben kann und wodurch wir unter Umständen in eine ästhetische Krise geraten können. Das trifft besonders auf Wissenschaftler, Künstler und Designer zu, die an der Entwicklung von künstlichem Leben und neuer biologischer Materie (und ich meine damit weder Menschen noch Tiere) beteiligt sind. Abgesehen von den ethischen Problemen bringt das Bearbeiten solcher Dinge unangenehme Erinnerungen mit sich, die anerzogen sind und die eher als schmutzig und hässlich bezeichnet werden. Aber ich habe keine Vorurteile gegenüber dem ‚Hässlichen’ und der langen Tradition, die nach Mark Cousins’ Meinung schon immer versucht hat, auf einer philosophischen Ebene das ‚Hässliche’ dem Rang des Negativen zuzuordnen (Cousins, S. 61-64).

Ich finde das sogar faszinierend, insbesondere in einer Zeit, in der Geschmacks- und Wahrnehmungskriterien durch die allmähliche ‚Medizinisierung’ unserer Gesellschaft verändert werden. In der Zukunft wird es sehr gut möglich sein, dass Architekten in interdisziplinären Gruppen arbeiten werden, die sich definitiv auf einer anderen formalen Stufe befinden als die des verbreiteten ‚Polite Modernism’. Im Grunde greift es zurück auf das, was Bourdieu als ‚Erziehung des Geschmacks’ bezeichnet (Bourdieu, S. 490).

Im neunzehnten und zwanzigsten Jarhundert hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine moralisch-ästhetische Struktur entwickelt, und diese definiert auch weiterhin unsere zeitgenössische Architektur im ständigen Kompromiss zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft.

B.G. Sie untersuchen in ihrer Dissertation auch neue Formen von Wänden. Welche Grenzen versuchen Sie zu sprengen? Wie könnten Wände in Zukunft aussehen?

M.C. Das Thema, welches Sie ansprechen, untersuche ich unter dem Titel ‚Bewohnbare Interfaces’. Es ist ein Phänomen, in dem ich einen Wechsel von traditionellen‚ raum-zentrischen bis hin zu wand-zentrischen Konzepten erforsche. Für mich ist klar, dass die herkömmliche Raumgestaltung sich fast ausschlieslich mit Nutzung und Organisation des ‚leeren’ Raums befasst hat – und Wände sind dementsprechend sozial, politisch und funktionell gesehen als reine Aufteiler verbannt worden. Aber ich glaube, dass hinter der zeitgenössischen physischen Bausubstanz viel mehr zu entdecken ist, und zwar eine vielfältige, bewohnbare Welt von materieller ‚Wandigkeit’. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, die heutige Relation zwischen menschlichem Körper, Wänden und dem bewohnbaren Raum zu hinterfragen.

Was ich als ‚Bewohnbare Interfaces’ definiere, beinhaltet einen erweiterten Begriff von Wand als ‚primärer architektonischer Zustand’, der im Gegensatz zu der weit bekannten Metapher von ‚Haut’ steht, die Adrian Forty angeklagt hat als eine Bezeichnung, die die Wand in den letzten Jahren immer mehr zu einer flachen membran-ähnlichen Funktion reduziert hat. Und dies verschärft sich im verbreiteten digitalen Diskurs, der die architektonische Haut als immer dünner und transparenter rendert und sie gleichzeitig ‚entkörpert’. Im Gegenteil, ich bin für eine zunehmend korporale Architektur mit dicken und bewohnbaren Wandstrukturen.

In dem Projekt ‚Hyperdermis’ setze ich einige dieser Gedanken in die Praxis um und versuche neue Wandräumlichkeiten zu entdecken. Es ist eine hypothetische Szenerie, die in Ihrer bildnerischen Gestaltung spekulativ ist: Bewohner schleichen sich durch dehnbare Wandmündungen in geschmeidige und nachgiebige Kammern hinein, die in eine bewegliche Gummi-Fassade eingebettet sind, um dort zu sitzen/liegen/kommunizieren. Es ist ein eher unheimliches Schauspiel von sich öffnenden und schliessenden Poren, anschwellenden Narben und reagierenden Tentakeln, in denen fünf verschiedene Nutzungen zu finden sind: Die „In-wall Seats“ sind Sitzmöglichkeiten, die die Eigenschaften der intelligenten, mit re-aktivem Gel ausgestatteten, doppelschichtigen Wände ausnutzen. Je nach Position und Bewegung des Benutzers verändert sich die Form der Wand und passt sich der Körperanatomie an. Die „Relaxing Cocoons“ sind ‚inwändige ‚Couchettes’. Ihrer Natur nach sind sie einer Gebärmutter ähnlich; ein schützender und regenerativer Ort. Sie bestehen innen aus einer mehrfach beschichteten, genetisch manipulierten organischen Membran, die als großflächig wachsendes ‚Futteral’ die aussen liegenden konstruktiven Gewebe verkleidet. Die „Communication Suits“ sind digitale ‚Interfaces’, in die der Benutzer hineinkriecht, um sich mit elektronischen Wandärmeln, besiedelt von mikroskopischen, optischen Fibern und Sensoren, vorübergehend zu ‚bekleiden’. Sie geben regelmässig Information an den Körper weiter und schliessen sein körperliches Nerven- und Muskelsystem an das globale Digitalnetz an. Die unbeständigen Formen der „Storage Capillaries“ sind ein einfaches Aufbewahrungs- bzw. Lagerungssystem. Es ist vergleichbar mit der Fettverteilung in der menschlichen Haut: Das Gebäude schwillt durch das Verstauen der überschüssigen Gebrauchsgegenstände in den Wänden an. Als letztes sind die „Gestural Tentacles“ Kontrollextremitäten, die den Benutzer vor störenden Einflüssen von außen schützen. Wie Insektenfühler sind sie äußerst berührungssensibel, mit Kontrollmonitoren ausgestattet, und sie können unerwünschte Aktionen zurückweisen.

B.G. Ihr ehemaliger Lehrer und Co-Dozent an der Barlett School ist Archigram-Gründer Peter Cook. Inwieweit knüpfen Sie mit ihrer heutigen Arbeit an die 60er Jahre Architekturutopien von Archigram an?

M.C. Die sechziger und siebziger Jahre waren eine faszinierende Zeit, weil sie von einer sehr positiven, befreienden, aber auch unruhigen Energie belebt wurde, wie es das selten in der Geschichte gab. Es war das Zeitalter der Mondlandung, der ersten Computer, der Bewegung der 68er, der femininen und sexuellen Emanzipation, der Rolling Stones, der Beatles usw., sowie einer unglaublichen Vielfalt an neuem Design. Archigram war eine Gruppe von extrem sensiblen und kreativen Persönlichkeiten in einer Stadt, die sich mehrheitlich im Zentrum dieser Entwicklung befand. Sie konnten und wollten einfach nicht mehr nur zusehen, wie die Architektur sich langsamimmer weiter von der Realität entfernte, besonders, weil sie immer noch versuchte sich mit dem Fall des Modernismus abzufinden. Sie waren gelangweilt und spekulierten auf die Benutzung eines neu entstandenen technologischen Potenzials. Vor allem glaubten sie an den kreativen und kulturellen Input, den die Architekten haben könnten. Viele von ihren Ideen wurden erst heute verwirklicht!

Das Grazer Kunsthaus wird von Kritikern und Medien als eine Realisierung alter Archigram-Visionen bezeichnet, was zwar in gewisser Weise stimmt, das Projekt jedoch als ein ‚altes’ hinstellt. Unverstanden dabei bleibt die Tatsache, dass es hauptsächlich ein Gebäude der Zukunft ist und es dadurch auch wirklich die Archigram-Stimmung verkörpert. Das Kunsthaus wurde von uns als bio-technologischer Organismus gedacht, der nur auf sehr limitierte Weise gebaut werden konnte und eventuell weitere dreißig oder vierzig Jahre bis zu seiner Verwirklichung warten muss.

Archigram sollte den Architekten weiterhin als Vorbild dienen, auch wenn der damalige Positivismus aus heutiger Sicht eher mit Vorsicht zu behandeln ist. Trotzdem müssen die Gesellschaft, die Bauindustrie und der große Teil der Architekten aus der nostalgischen Stimmung der achtziger Jahren erwachen und akzeptieren, dass wir in einem neuen digitalen und biologischen Zeitalter mit tief greifenden Konsequenzen für Mensch und Architektur leben.

Passiv bleiben ist keine Lösung, und deswegen müssen wir reagieren und zu Alternativen greifen, in denen wir uns mit diesen neuen Umständen auseinandersetzen. Peter Cooks schier endlose Begeisterung und sein Glauben an die Kreativität des Menschen spielt hier eine wichtige Rolle, weil er uns alle und sich selbst natürlich auch immer wieder anspornt, erfinderisch zu sein.

B.G. Zusammen mit ihrem Partner erstellen sie aufwendige Computerrenderings. Inwieweit verändert diese Technologie und Kunstfertigkeit den Entwurfsgedanken?

M.C. Wir arbeiten immer noch viel mit Handskizzen und glauben auch, dass das nicht zu ersetzen ist. Gleichzeitig skizzieren wir aber auch viel mit dem Computer. Obwohl bei unserer gemeinsamen Arbeit Marjan eher der Computerfachmann ist und ich der Modellbauer und Handzeichner, so teilen wir doch Sensibilität und Faszination für den Computer. Wir sind überzeugt, dass sich verschiedene Techniken und Methoden ergänzen sollten. Das kreative Benutzen des Computers ist jedoch definitiv davon abhängig, die Fähigkeit zu entwickeln, damit intuitiv und gestenhaft zu arbeiten, also eigentlich wie mit der Hand. Und dabei erlaubt die Kapazität des Computers ein ungeheures Informations-Volumen und höchste Präzision. Hauptsächlich bei technologischen, hoch komplexen Phänomenen und Arbeiten in sehr kleinen Maßstäben rückt der Computer immer mehr in das Zentrum unserer Arbeit. Hinzu kommt noch, dass der Modellbau heutzutage hauptsächlich von der dreidimensionalen Computergestaltung abhängig ist. Die ganze CAD/CAM-Technologie erlaubt das Bauen von Objekten in unglaublicher Schnellig- und Genauigkeit Es trägt dazu bei dass, wie im Mittelalter, die gestalterische der konstruktiven Phase sehr nahe rückt. Derjenige, der zeichnet, ist im Prinzip auch wieder der, welcher baut.

Es ist jedoch entscheidend den Computer in einer Weise zu gebrauchen, dass man eine eigene Sprache entwickelt, die das darstellt, was unsere Projekte oder Ideen aussagen sollen. Es ist leicht, schlechte Computerrenderings zu machen, die überall auf der Welt gleich aussehen. Marjan und ich sind diesbezüglich auch geradezu paranoid und verbringen eine endlose Zeit mit der Gestaltung und Bearbeitung unserer Bilder. Der nachhaltige Effekt ist aber der, dass eine gute Zeichnung immer ein Ansporn ist etwas Neues zu kreieren. Es stimuliert unglaublich. Während eine schlechte Skizze oder Bild nur eine Wiederholung dessen ist, was man sowieso schon im Kopf hatte, bringt eine gute Zeichnung immer etwas Unverhofftes, Neues, auch wenn man sie zwei Jahre später wieder betrachtet.

B.G. Bezogen auf unsere Suche nach der neuen Ästhetik. Was haben die von ihnen ausgewählten Favoritenbilder gemeinsam?

M.C. Die mit künstlichen Lebensbedingungen zusammenhängenden Themen interessieren mich natürlich ganz besonders. Da gibt es ein ganz neues ästhetisches Feld zu entdecken, welches, wie gesagt, den traditionellen Schönheitskriterien nicht folgt. Ich bin immer wieder von Hieronymus Boschs Malereien fasziniert und der darin enthaltenen, beschreibenden Komplexität. Meisterhaft gelingt ihm die Überlagerung verschiedener Szenen; er verbindet Menschen, Chimären und andere Monster zu märchenhaften Gebilden und erhebt dadurch das Groteske, zum Teil auch Abstoßende auf die Ebene des Schönen.


Literatur

Bourdieu, Pierre: Distinction – A Social Critique of the Judgement of Taste, Routledge, 1979
Forty, Adrian: Objects of Desire – Design and Society since 1750, Thames and Hudson, 1986
Wigley, Mark: White Walls, Designer Dresses – The Fashioning of Modern Architecture, The MIT Press, 1995
Cousins, Mark: The Ugly in AA Files: Annuals of the Architectural Association School of Architecture no 28 Autumn 1994